Evangelium aus jüdischer Sicht

Das erste Buch des Neuen Testaments, das ich las, als ich bereits Rabbiner war, war das Matthäusevangelium. Ich wurde darüber erschüttert, wie jüdisch dieses Buch ist. Als ich einige Zeit später gläubige Christen kennenlernte, wurde ich erschüttert, wie anders sie dieses Buch verstehen. Heute möchte ich darüber reden, wie sich dieses Buch Juden offenbart.

Als Jeschua auf dieser Erde diente, waren die meisten Israeliten sehr ungebildet. Sie konnten weder lesen noch schreiben. Es gab natürlich auch Gelehrten, die lesen und schreiben konnten, aber die Mehrheit war ungebildet. Das zweite Problem war, dass die meisten Menschen Hebräisch nicht kannten und sich auf Aramäisch unterhielten. Wie lernten denn Menschen die Torah? Sie kamen in die Synagoge, wo drei Mal die Woche Torah vorgelesen wurde, und zwar jeder Vers auf Hebräisch mit der aramäischen Übersetzung. Diese Übersetzungen waren die ersten Kommentare zur Torah. Diese Übersetzungen auf Aramäisch heißen „Targum“. Sie enthalten Ergänzungen, Auslegungen der Übersetzer und rabbinische Kommentare. Auf dieser Grundlage bildete sich der Glaube der einfachen Menschen, auch ihre Vorstellungen über Messias.

Als ich das Matthäusevangelium las, war es für mich als Rabbiner wichtig, dass es auch der mündlichen Tradition entspricht. Dies habe ich im Evangelium bereits ab der ersten Zeile entdeckt.

Der Stammbaum Jesu. Jungfrauengeburt.

Matthäus beginnt sein Evangelium mit den Worten „Buch des Ursprungs Jesu Christi“. Auf Hebräisch ist es fast ein Zitat aus 1. Mose 5,1: Dies ist das Buch der Geschlechterfolge Adams. Im 1. Mose steht der Stammbaum Adams. Die Kommentatoren, die Targume schrieben, sagen, dass es sich dabei nicht nur um den Stammbaum Adams handelt, sondern um den Stammbaum der Menschheit. Der Name „Adam“ bedeutet auf Hebräisch „Mensch“. Auf Hebräisch besteht dieses Wort aus drei Buchstaben: א (alef), ד (dalet), מ (mem). Kommentatoren sahen darin drei Namen: Abraham, David und Messias. In diesen Worten sah man einen Hinweis auf die stichwortartige Geschichte von Abraham bis Messias. Matthäus beginnt sein Evangelium mit den Worten „Buch des Ursprungs Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“. Das überschneidet sich damit, was im 1. Mose geschrieben steht.

Aber im Stammbaum des Matthäus gibt es etwas Außergewöhnliches. Wenn wir jeden anderen Stammbaum im Tanach (in der jüdischen Bibel) nehmen, sehen wir, dass jeder Stammbaum die Nachkommen eines Menschen aufführt. Im Stammbaum Adams geht es um Söhne Adams. In Stammbäumen der Söhne Noahs geht es um ihre Kinder. Wenn wir aber den Stammbaum Jeschuas sehen, lesen wir über seine Vorfahren und nicht über seine Nachkommen. Es ist sehr außergewöhnlich. So könnte der Stammbaum Abrahams beginnen. Wenn so ein Stammbaum vorgeschlagen wird, bringt er zum Nachdenken, denn er stellt den Messias vor Abraham.

Jüdische Tradition sagt tatsächlich, dass Messias vor Abraham existierte. Bereits im 1. Mose, Kapitel 1 wird vom Geist gesprochen, der über den Wassern schwebte. Kommentatoren sagen, dass es der Geist des Messias ist.

In Kommentaren zu Jesaja 66 sagen die Gelehrten, dass bevor der erste Unterjocher geboren wurde, wurde der letzte Retter geboren, was bedeutet, dass er vor allen Menschen existierte. Kommentatoren fragen: Wofür erwählte der Allmächtige Abraham? Die Antwort lautet: Damit von ihm Messias geboren wird. In der Absicht Gottes war die Verkörperung Messias bereits vor Abraham.

Eine andere Geschichte erzählt, was vor der Schöpfung der Welt war. Es wird gesagt, dass der Allmächtige auf seinem Thron saß. Rechts von Ihm war der Garten Eden, links von Ihm war der Eingang in die Hölle, vor Ihm stand der himmlische Tempel mit dem Opferaltar in der Mitte. Auf dem Altar war der Name des Messias aufgeschrieben. Wir sehen wieder, dass Matthäus genau das zeigt, dass Messias bereits vor Abraham existierte.

Weiter führt Matthäus einen langen Stammbaum auf, der aus 42 Geschlechtern besteht. Matthäus teilt ihn in drei Gruppen je 14 Geschlechter auf. Matthäus sagt (1, 17):

So sind nun alle Geschlechter von Abraham bis auf David vierzehn Geschlechter und von David bis zur Wegführung nach Babylon vierzehn Geschlechter und von der Wegführung nach Babylon bis auf den Christus vierzehn Geschlechter.

Das ist auch eine sehr bekannte jüdische Tradition. Die Tradition vergleicht Messias mit dem Mond. Darüber spricht Psalm 89, 38: Wie der Mond wird er ewig fest stehen.

Die Tradition sagt, dass man Abraham mit einem Neumond vergleichen kann. Damit hat die Entwicklung Israels angefangen und dauerte 14 Tage bis zu David, wie es 14 Tage vom Neumond bis zum Vollmond dauert. Dann fiel Israel und es vergingen 14 Tage bis zur Entführung nach Babylon (in diesem Augenblick war der Mond wieder sehr klein). Die nächsten 14 Tage ist der Aufgang zu Messias und am Ende der dritten Periode, die auch 14 Tage dauert, kommt wieder Vollmond (Messias) und bleibt in Ewigkeit. Diese Aussage von Matthäus stimmt mit der jüdischen Tradition überein.

Ich las das Evangelium weiter und sah, dass Jeschua nicht von einem irdischen Vater geboren wurde. Darüber spricht auch eine jüdische Tradition. In Klageliedern 5,3 steht: Waisen sind wir geworden, ohne Vater; unsere Mütter sind Witwen gleich. Jüdische Kommentatoren sagen über diesen Vers: Ihr beklagt euch, dass ihr Waisenkinder wurdet? Ich offenbare euch einen Erretter, der keinen Vater haben wird.

Genauso wird Jesaja 53, 2 verstanden: Er ist wie ein Trieb vor ihm aufgeschossen und wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und keine Pracht.

Das heißt, Jeschua entsteht wie ein Spross.

Genauso im Psalm 2, 7: Lasst mich die Anordnung des HERRN bekannt geben! Er hat zu mir gesprochen:  Mein Sohn bist du, ich habe dich heute gezeugt.

Alles, was Matthäus aufführt, schreibt er nicht nur nach der schriftlichen, sondern auch nach der mündlichen Tradition.

Als ich das alles las, verfolgte mich der Gedanke, dass ich seit 20 Jahren diese Texte studiere, Midrasch, Talmud und all die jüdischen Texte lernte. Wenn ich diese Bücher nicht gelesen hätte, könnte ich nicht verstehen, was Matthäus schreibt. Ich dachte: Kann dieses Buch eine Nachahmung sein? Das ist einfach unmöglich. Ich las ein Kapitel nach dem nächsten, habe die Bergpredigt durchgelesen. Alles, was Jeschua sagt, gibt es auch in jüdischen Quellen, es gibt keine Widersprüche. Ich las das Evangelium mehrfach durch und fand keine Widersprüche. Jeschua kam aus diesen Seiten wie ein jüdischer Rabbi heraus.

Verschiedenes Verständnis des Evangeliums

Es hat mich interessiert, was mit Menschen geschieht, die an Jeschua glauben. Als ich gläubige Christen traf und mit ihnen über das Evangelium sprach, merkte ich, dass wir das Evangelium ganz unterschiedlich sehen. Das Wort „Evangelium“ bedeutet auf Hebräisch „bessora“ – eine gute Nachricht. Dasselbe Wort bedeutet auch Verkörperung, dass etwas Fleisch wurde. In Gesprächen mit Christen versuchte ich zu verstehen, was für sie die gute Nachricht bedeutet. Einige antworteten, dass die gute Nachricht darin besteht, dass Jeschua für unsere Sünden starb. Die anderen sagten, dass Jeschua zur Rechten des Vaters sitzt – das ist die gute Nachricht. Die dritten meinten, dass das Beste darin besteht, dass wir nun errettet sind. Alle diese Dinge waren für mich keine gute Nachricht.

Wofür brauche ich Vergebung der Sünden? Ich sündige doch wieder. Ich kann wieder Buße tun, werde aber wieder sündigen. Als der Tempel noch stand, konnte ich ein Opfer bringen, eine Taube oder ein Schaf. Jetzt muss ich es nicht mehr tun. Ich bekomme Erlösung durch das Blut von Jeschua, er kam mit diesem Opfer in das Allerheiligste. Er erlöst meine Sünden. Aber ich sündige trotzdem weiter! Kann ein erlöster Mensch sündigen? Vielleicht ist das nur ein Teil der guten Nachricht?

Außerdem sitzt zwar Jeschua tatsächlich zur Rechten des Vaters, aber ich unterordnete mich ihm nicht. Johannes sagt, dass ein Mensch, der Jeschua dient, nicht sündigen kann. Er sagt, dass wenn ein Mensch sündigt, heißt es, dass er Gott nicht kennt und sich Jeschua nicht unterordnet. Offensichtlich ist Errettung und das Reich Gottes nur ein Teil der guten Nachricht. Üblicherweise wird bei einer Evangelisation genau dieses Teil erzählt.

Oft kommen zu mir Missionare, die aus meinem Äußeren schließen, dass ich ein normaler orthodoxer Jude bin, und erzählen mir von Jeschua. Sie beginnen das Gespräch: Weißt du, dass es im Himmel einen König gibt? Oder sie fragen: Wo kommst du hin, wenn du stirbst? Oder sie sagen: Willst du ein echter Jude werden? Nichts davon ist für mich attraktiv. In meinem jüdischen Leben störte mich nicht, dass ich in die Hölle komme. Es ist wie ein Arbeiter, der eingestellt wurde, um Früchte im Garten zu sammeln. Er weiß, dass wenn er seine Arbeit schlecht macht, bekommt er dafür kein Geld oder wird bestraft. Es gibt Arbeiter, die sich Gedanken darüber machen, dass sie kein Geld bekommen. Aber es gibt Arbeiter, die sich Gedanken machen, dass sie ihre Arbeit nicht erfüllen können.

Die meisten Juden gehören zur zweiten Gruppe. Einen Juden stört, dass er das Licht Gottes nicht durchlässt. Der Herr sagte zu mir: Sei mein Zeuge! Aber ich kann kein guter Zeuge sein, da ich ständig sündige. Eine Strafe ist natürlich furchtbar, aber es ist noch furchtbarer, dass Gott nicht zufrieden mit mir ist. Und das ist das, was einen Juden stört. Es gibt in mir Finsternis und sie lässt das göttliche Licht durch mich nicht hindurch. Ich kann für Gott kein guter Diener sein – das ist schlimmer als eine Strafe, weil ich Ihn liebe und keine Angst vor seiner Strafe habe.

Wenn ein Kind die Lieblingsvase seiner Mutter zerbrach, wird die Mutter es bestrafen, aber schade, dass die Mutter ihre Lieblingsvase verlor. In meiner Beziehung zu Gott war es auch so. Und bei den meisten Juden ist es so. Einen Juden stört, dass er dem Allmächtigen nicht dienen kann. Worin besteht dann die gute Nachricht? Ich kann Vergebung der Sünden empfangen, ich werde nicht bestraft, aber ich kann Gott immer noch nicht dienen.

All diese Gedanken hatte ich im Kopf, als ich mit Gläubigen sprach. Getröstet hat mich nur die Tatsache, dass ich die Schrift studieren kann. Ich versuchte es, aus der Schrift zu verstehen, wie das Evangelium ist. Es gibt vier Bücher, die Evangelien heißen, und sie erzählen von der guten Nachricht, aber man kann nicht immer verstehen, was die gute Nachricht ist. Kein Gläubiger konnte mir sagen, was die gute Nachricht ist. Es war eine wichtige Nachricht, aber es war schwer, das eine gute Nachricht zu nennen. Ich sündigte, jemand starb für meine Sünden, aber ich sündige nach wie vor – es war furchtbar.

Eine Auslegung des Evangeliums fand ich bei Paulus. Er erzählt vom Evangelium im 1. Korintherbrief 15. Dieses Kapitel beginnt mit den Worten: Ich tue euch aber, Brüder, das Evangelium kund, das ich euch verkündigt habe… dass Christus für unsere Sünden gestorben ist nach den Schriften; … und dass er auferweckt worden ist am dritten Tag nach den Schriften. Paulus sagt, dass wir dank dieses Evangeliums errettet werden. Aus diesen Versen wird klar, dass Evangelium keine Nachricht über unsere Errettung ist, sondern dass wir dank dieser Nachricht errettet werden. Worum geht es denn im Evangelium, wenn nicht um unsere Errettung? Ein Teil des Evangeliums handelt davon, dass Jeschua für unsere Sünden starb. Aber Paulus bleibt dabei nicht stehen. Paulus sagt, dass die gute Nachricht darin besteht, dass der Allerhöchste durch den Tod von Jeschua sich alles unterworfen hat. Alles ist Gott unterworfen. Der Allerhöchste erschuf Adam, damit er zum Herrscher wird. Der Herr sagt: Wir werden einen Menschen machen und er wird herrschen. Aber der Mensch ist gefallen. Adam konnte nicht herrschen. Viele Generationen vergingen und der Allerhöchste erwählte Abraham und danach Israel. Was bedeutet das Wort „Israel“? dieses Wort bedeutet „der Allerhöchste wird herrschen“. Das war das Ziel Israels, dass der Allerhöchste über Israel herrscht. Und Paulus sagt, dass es durch den Tod von Jeschua vollbracht ist. Alles ist Gott unterworfen. Und das ist wirklich eine gute Nachricht.

Andererseits könnte man denken: Aber ich sündige nach wie vor. Paulus schreibt, dass alles Gott unterworfen ist, aber ich bin Ihm nicht unterworfen. Vielleicht verwechselt Paulus etwas? Vielleicht irrt er sich? Ich las Paulus und konnte es nicht verstehen. Paulus schreibt darüber, wie dieser Prozess abläuft. Er sagt, dass wir bei unserer Taufe mit Messias mitgekreuzigt wurden. Paulus sagt: Wenn wir mit Messias sterben, dann werden wir mit Messias mitauferstehen. So wird es etwas klarer: Jeschua starb für meine Sünden und ist auferstanden. Durch seine Auferstehung kann ich auch als ein neuer Menschen auferstehen, aber dafür muss ich erst mal sterben. Das heißt, die gute Nachricht ist die Möglichkeit der Auferstehung aus den Toten, der Tod meines alten Menschen und die Auferstehung eines neuen Menschen. Die Auferstehung eines neuen Menschen, der in mir herrschen kann. Das ist das Ziel Israels. Israel wurde dafür erwählt, dass alles Gott unterworfen wird. Das ist die Bedeutung des Namens „Israel“.

Wenn ich mit orthodoxen Juden über Jeschua spreche, sagen sie: Wir wollen nicht aus der Gnade leben, ohne dass wir uns an Gesetz halten. Wir brauchen keine Vergebung der Sünden. Wir haben keine Angst vor der Hölle. Warum bist du zu uns gekommen, um uns von Jeschua zu erzählen? Das alles ist eine große Lüge. Es ist dasselbe, als wenn du uns einen Schneepflug verkaufen wolltest, obwohl wir nie Schnee haben. Wir lieben Gott und haben keine Angst vor Seiner Bestrafung. Wir lieben es, wenn Er uns bestraft, weil es uns besser macht. Es tut uns weh, dass Gott mit uns unzufrieden ist. Kann Jeschua uns dabei helfen? Ich versuche es, ihnen das zu erzählen, was ich jetzt euch erzähle. Und sie sagen: Das alles ist sehr gut, aber Christen sagen etwas Anderes. Vielleicht bist du ein besonderer Christ? Alle Christen sprechen mit uns entweder über die Errettung oder über die Vergebung der Sünden. Vielleicht ist es ein neuer christlicher Trick, den ihr euch einfallen ließt, um uns in die Kirche zu bringen?

Ich schlage es vor, die Schrift aufzumachen, und wir studieren zusammen das Evangelium. Sie sagen: Warum verstehen Christen das nicht? Ich antworte ihnen: Weil es ein jüdisches Buch ist. Sie sagen: Und wenn wir daran glauben, hören wir dann auf, Juden zu sein? Ich sage: Wir hören nicht auf, das Gesetz einzuhalten. Wir hören nicht auf, ein Teil Israels zu sein. Wir denken jüdisch. Wir leben jüdisch. Wenn Raketen auf Juden fallen, fallen sie auch auf uns. Wenn jemand wiederkommt, um Juden zu töten, wird er auch uns töten. Warum sind wir dann keine Juden? Es gibt Leute, die dieser Botschaft das Herz öffnen. So ein Evangelium ist verständlich für Juden. Juden sind bereit, es aufzunehmen.

Man kann sich fragen, wie vertrauenswürdig die mündliche Torah ist. Ist es richtig, Jeschua auf der Grundlage dieser Tradition zu prüfen? Wir könnten sagen, dass für uns nur der Tanach (die geschriebene jüdische Bibel) Autorität hat. Aber wenn wir das Matthäusevangelium lesen, sehen wir, dass Matthäus die mündliche Tradition kannte. Seine Erzählung beruht mehr auf der mündlichen Tradition als auf der schriftlichen. Die mündliche Tradition widerspiegelte reale Bedürfnisse des jüdischen Volkes und beantwortete seine Fragen.

Wie sind Midraschim (jüdische Gleichnisse) entstanden? Jemand stellte eine Frage darüber, was ihm weh tat. Darauf entstand eine Antwort als Gleichnis. Somit widerspiegelt die Tradition die Bedürfnisse des Volkes. Ohne mündliche Tradition ist es unmöglich, mit orthodoxen Juden zu sprechen. Wahrscheinlich legte das Evangelium einen langen Weg zurück, bevor es zu uns kam, denn heute herrscht unter Christen ein ganz anderes Verständnis. Christliche Gemeinschaft ist keine Gemeinschaft des Evangeliums, sondern eine große Gemeinschaft der Errettung. Ein Mensch wird normalerweise gefragt, ob er Vergebung der Sünden hat und ob er errettet ist. In einer jüdischen Gemeinschaft gibt es solche Fragen nicht. Wir machen unsere Arbeit. Wir bemühen uns, dem Allerhöchsten zu dienen, weil wir ihn lieben, nicht weil Er uns dafür bezahlen will, auch wenn wir uns sicher sein können, dass er seine treuen Diener bezahlen wird. Aber darum geht es uns nicht.  Durch Jeschua bekommen wir die Möglichkeit, Gott besser zu dienen. Wir werden darüber später reden, wenn wir über die Errettung sprechen werden, darüber, wie Errettung geschieht.

Wenn wir Juden das Evangelium bringen wollen, dann sollte es kein anderes Evangelium geben. Es gibt Errettung und Vergebung der Sünden. Das sind sehr wichtige Teile des Evangeliums, ohne die es kein Evangelium gibt. Aber das ganze Leben Jeschuas, alles, was er tat, ist das Evangelium: der verkörperte König, der dem Volk Israel versprochen wurde und der im Ratschluss Gottes vor jeder Schöpfung war und das Ziel und das Ende der Schöpfung ist.

Jeschua sagte über eine Frau, die ihn salbte: Überall, wo das Evangelium gepredigt wird, wird man über diese Frau sprechen. Diese Frau hat mit Jeschuas Tod und Auferstehung nichts zu tun. Sie ist einfach ein Mensch, den Jeschua in seinem Leben traf. Jeschua spricht davon, dass diese Frau ein Teil jeder Predigt des Evangeliums ist. Warum sagte Jeschua das? Evangelium erzählt uns über die Königsherrschaft, über die Vergebung der Sünden und Errettung. Was hat es mit dieser Frau zu tun? Wenn Jeschua selbst das Evangelium ist, der regierende König, durch den der Allerhöchste sich alles unterwarf, dann ist diese Frau ein Teil der Schöpfung, ein Mensch, den Jeschua in seinem Leben traf. Womöglich ist Jeschua selbst und sein Leben das Evangelium? Hat Jeschua selber so ein Evangelium gepredigt? Sprach Jeschua von sich selbst, wie von einem König? Sprach Jeschua vom himmlischen Reich? Ich denke, wir finden ohne Schwierigkeiten Bibelstellen, die davon zeugen. Es ist die Grundlage des Evangeliums von Jeschua.

Sprach Paulus von diesem Evangelium? Es gibt „das Evangelium von Paulus“ und im 1. Korintherbrief 15 sehen wir genau dieses Evangelium. Der Herr unterwarf sich alles, Jeschua wurde König. Durch seinen Tod können wir uns auch dem Allerhöchsten unterwerfen. Wir können Ihm treue Diener sein, ohne dass die Sünde ein Hindernis dabei ist. Wir können uns von der Finsternis reinigen, die uns trennte. Und das ist die gute Nachricht für Israel. Das ist das Ziel Israels. Das ist wirklich eine gute Nachricht, wenn wir mit einem Juden sprechen. Wenn wir auf das Evangelium aus jüdischer Sicht schauen, dann sehen wir dieses Evangelium: Wir bekommen die Möglichkeit zu dienen und das ist es, was wir schon immer erstrebten.

Es bleibt nur, dieses Evangelium zu Israel zu bringen. Es ist eine langsame Arbeit, denn es gibt viele Hindernisse. In vielen Ländern ist so ein Dienst gefährlich. Früher fuhr ich aus Israel in die Türkei, um dort iranische Juden zu treffen, die nicht nach Israel kommen können, und zu denen ich auch nicht hinfahren darf. Wir trafen uns in einem neutralen Land. Wenn jemand ihre Namen erfahren würde, wären sie in einer großen Gefahr. In Iran wird Religionswechsel verfolgt. Sie würden nicht einfach von der Arbeit gefeuert, sondern sie könnten hingerichtet werden. Das ist ein Hindernis für das Evangelium.

Oft treffe ich orthodoxe Juden, die an Jeschua glauben und sich verstecken. Wenn jemand erfahren würde, dass sie gläubig sind, würde es ihre Familien treffen und ihre Kinder in Gefahr bringen. So ist die Lage in Israel.

In Israel gibt es viele messianische Gemeinden. Sie existieren ganz frei. Man kann hingehen, es ist nicht gefährlich. Nur in der Stadt Arad gibt es Verfolgungen der messianischen Gemeinde. Es ist schwer dort, aber man kann in eine andere Stadt ziehen. Auch zu ihnen kommen Gläubige aus anderen Städten. Ich weiß es, weil ich selber drei Jahre lang in Arad lebte. Es ist schwer dort.

Aber einem orthodoxen Juden geht es noch viel schwerer. Wenn er Jeschua annimmt, verliert er alle seine Verwandten, die soziale Umgebung, in der er lebte. Er kann nirgendwo hingehen. Normalerweise wird er keinen Platz in einer messianischen Gemeinde finden, denn orthodoxe und messianische Kulturen sind sehr verschieden. Er müsste sehr viel annehmen, was er nicht annehmen kann. So bevorzugt er, sich zu verstecken. Unsere Gemeinde trifft sich privat. Es ist eine sehr kleine Gemeinde mit nur 15 Familien. Viele Leute verloren ihre Arbeit, weil sie gläubig wurden. Viele verheimlichen ihren Glauben. Zum Beispiel arbeitet ein Gläubiger an Jeschua weiterhin an einer Jeschiwa (religiöse jüdische Einrichtung). Er ist nach wie vor Rabbiner und er erzählt niemandem, dass er an Jeschua glaubt. Wenn er davon erzählte, würde er alles verlieren.

Eines Tages kam zu uns ein messianischer Gläubiger. Er kam aus Kanada und rief uns an, dass er bei uns vorbeikommen möchte. Zu uns kann man nicht einfach so kommen. Wir besprechen es erst mal, ob wir jemandem erlauben, zu uns zu kommen. Wir haben luden Menschen zu uns mit der Bitte ein, dass er ohne Foto- oder Videokamera käme. Wir baten ihn darum, bei uns empfindsam zu sein. Er kam zu uns und es war eine schöne gemeinsame Zeit. Wir dienten zusammen. Einige Zeit später fuhr er nach Hause und postete ein Video in seinem Blog. Er schrieb dazu, dass wir ihn baten, nicht zu filmen, aber er brachte eine kleine Kamera mit und filmte uns trotzdem. Gott sei Dank, niemand wurde aufgrund dieses Videos verfolgt, aber es war ein Vertrauensbruch. Das ist einer der Gründe, warum Juden Angst davor haben, das Evangelium anzunehmen: Sie vertrauen uns als messianischen Gläubigen nicht und haben Angst, dass sie irgendwann ganz alleine bleiben.

 

Noch ein Grund, von dem ich sprach, ist die mündliche Torah. Die meisten messianischen Gläubigen belächeln sie. Für sie ist es ein Märchenbuch. Oft bin ich damit einverstanden. Es ist tatsächlich ein Märchenbuch. Ein Teil der Geschichten aus der mündlichen Torah erzählt man Kindern. Ein Teil dieser Geschichten erzählt man ungebildeten Menschen. Aber jüdisches Weltbild ist aus diesen Märchen entstanden. Diese Märchen sind ein Teil der jüdischen Geschichte. Sie sind ein Teil der jüdischen Tradition. Wir sehen, dass Evangelisten das berücksichtigten. Moderne Missionare tun das nicht und im Endeffekt spricht man aneinander vorbei.

Das sind Gründe, warum das Evangelium bis zu Juden nicht durchdringt.

Natürlich gibt es noch einen Grund: Paulus schreibt von einer Verstockung, die Israel widerfahren ist, damit die Vollzahl der Nationen dem Volk Gottes hinzugefügt wird. Aber wir sehen, dass diese Zeit zu Ende geht. Wir sehen, dass Juden sich für das Evangelium öffnen und deswegen müssen wir die Arbeiter vorbereiten, die ernten werden. Auch deswegen bin ich jetzt hier und erzähle euch das, weil ich weiß, dass viele von euch zu Juden Kontakt haben. Deswegen möchte ich mit euch das teilen, was ich darüber weiß, was Evangelium für Juden bedeutet.

Fragen zum Vortrag:

Sie nannten die mündliche Torah ein Märchenbuch. Wie meinen Sie das?

Antwort: Ein Beispiel aus dem Neuen Testament: Jeschua trifft eine Samariterin am Brunnen. Diese Geschichte steht im Johannesevangelium. Jeschua sagt zur Samariterin, dass er ihr lebendiges Wasser gibt. Samariterin antwortet: Du hast doch kein Gefäß, um das Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen. Bist du besser als unser Vorvater Jakob?

Was meint ihr, was hat die Situation mit Jakob zu tun? Warum erinnert sie sich an Jakob? Nach Midrasch kam Jakob an den Brunnen heran und das Wasser stieg im Brunnen ihm entgegen. Es ist ein Märchen oder eine Geschichte, aber Samariterin kannte diese Geschichte. Es gab Wassermangel und jemand konnte das ganze Wasser aus dem Brunnen wegnehmen. Deswegen war es eine wunderbare Gabe von Jakob, dass das Wasser ihm entgegen hochstieg. Er brauchte das Wasser aus dem Brunnen nicht herauf zu befördern. Deswegen fragt die Samariterin Jeschua, ob er auch den Trick des Jakobs kennt, so dass er ihr Wasser ohne Eimer zu trinken geben kann. Wir sehen, dass die Samariterin diese Geschichte kannte.

Jeschua sagt zu seinen Jüngern: Nehmt auf euch das Kreuz und folgt mir nach. Woher wissen sie vom Kreuz? Am Kreuz ist noch nichts geschehen. Als Abraham mit seinem Sohn Isaak ging, um ihn zu opfern, sagt 1. Mose, dass Abraham auf seinen Sohn Holz geladen hat. Und ein Midrasch sagt dazu: Isaak ist wie ein Mensch, der das Kreuz trägt, auf dem er gekreuzigt wird. Das war eine sehr bekannte Geschichte, deswegen konnten die Jünger wissen, was Jeschua unter dem Kreuz meint. „Kreuz tragen“ bedeutete sich aufzuopfern, zu folgen wie Isaak dem Abraham.

Vielleicht sind es Märchen. Es sind Gleichnisse. Vielleicht sind es Predigten, die jemand gehalten hat. Juden lebten darin und Jeschua lebte unter diesem Volk. Wir können ein paar Dutzende Male finden, dass Jeschua Sprichwörter benutzte, die in Israel weit verbreitet waren. Es ist unsere Geschichte. Jüdische Märchen sind ein Teil der jüdischen Tradition. Matthäus benutzt sie, Jeschua auch. Deswegen können wir dieses Märchenbuch gebrauchen.

Was meinen Sie: Muss man Tanach immer durch die mündliche Tradition auslegen oder kann man Tanach auch direkt interpretieren?

Die mündliche Tradition an sich ist die Auslegung der Torah. Wir können Tanach an einer beliebigen Stelle aufschlagen und schauen, was Kommentatoren dazu sagen. Ein Kommentator kann, zum Beispiel, sagen: Alle vor mir meinten, dass dieser Vers von Abraham berichtet. Aber ich meine, dass es hier gar nicht um Abraham geht, sondern um Josef.  Und beginnt diese Stelle ganz neu auszulegen. Mündliche Torah ist eine Sammlung der Kommentare zu Tanach. Es ist die gesammelte Erfahrung der Jahrhunderte in der Auslegung des Tanachs.

Nehmen wir zum Beispiel, das Hohelied. Woher wissen wir, dass dieses Buch von der Beziehung zwischen Gott und Israel spricht? Im Hohelied steht nichts in diese Richtung. Da steht eine Geschichte von einer Frau und einem Mann. Sie schrieben einander schöne Briefe. Aus der mündlichen Tradition wissen wir, dass wir dieses Buch auf Gott und Israel deuten können.

Jeder Soldat, der in die israelische Armee kommt, bekommt ein Tanach ohne Kommentare. Ich selber hatte auch so ein Tanach. Aber die vorherrschende Meinung ist, dass es schwierig ist, Tanach alleine zu verstehen. Ich bin damit zum Teil einverstanden, aber ich meine, dass Tradition durch den Geist geprüft werden muss.

Habe ich es richtig verstanden, dass es für einen Juden viel wichtiger ist, Gott zu dienen als von den Sünden erlöst zu werden?

Erlösung von den Sünden ist ein Mittel. Es ist sehr wichtig, denn es ist unmöglich, Gott ohne Erlösung der Sünden zu dienen. Wenn ich unrein bin, kann ich zu Ihm nicht kommen. Er sagt zu mir: Du bist unrein und sündhaft. Du kannst mir nicht dienen. Deswegen ist die Erlösung von den Sünden sehr wichtig, aber das Ziel ist, Gott zu dienen.